Bildung beginnt im Kindergarten – Brief an neuen Bildungsminister

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Sehr geehrter Herr Bundesminister,

wir gratulieren Ihnen sehr herzlich zu Ihrer Ernennung zum Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Wir, die Träger*inneninitiative Elementare Bildung Wien, sind Expert*innen für die allerersten Bildungsjahre junger Menschen im Kindergarten. Als Mann der Wissenschaft möchten wir Sie auf die aktuell großen Herausforderungen der Elementarbildung mit wissenschaftlich fundierten Informationen aufmerksam machen:

Der Schlüssel zu einem erfolgreichen Schuleinstieg und einer guten Bildungskarriere ist der mindestens drei, besser vier Jahre dauernde Besuch einer qualitativen elementaren Bildungseinrichtung. Benachteiligte Kinder profitieren besonders von elementarer Bildung mit guter Qualität und einer Mischung des sozio-ökonomischen Hintergrunds. (Quelle: Sylva et al., 2004)

Von unzähligen Studien bestätigt, bedeutet das: Bildungspolitische Maßnahmen sind am effizientesten im Kindergarten anzusetzen. Denn ein qualitativ hochwertiger Kindergarten ist ein bildungspolitischer Tausendsassa.

Investitionen in elementarpädagogische Bildungsqualität bringen Gesellschaft und Politik ein Vielfaches zurück. Für die Altersgruppe der 1- bis 6-Jährigen gilt ein so genannter Return on Investment von 7:1, das bedeutet: Jeder Euro, der jetzt investiert wird, kommt siebenfach zurück! (Quelle: Schweinhart 2005, Belfield 2006)

Was bedeutet Qualität in der Elementarbildung?

Die größte und längste Langzeitstudie Europas, die EPPSE-Studie[1] kam zu dem Ergebnis, dass von Qualität in der Elementarbildung gesprochen werden kann, wenn

  • gut ausgebildete Pädagog*innen, die wissen wie Kinder lernen, engagiert mit Kindern arbeiten,
  • kognitive und soziale Bildung im Kindergarten gleich wichtig sind,
  • es eine respektvolle Kinder-Erwachsenenbeziehung gibt und die Bildungsinhalte durch offene Fragen gemeinsam erarbeitet werden,
  • freies Spiel und pädagogische Impulse sich die Waage halten,
  • Kinder bei der Lösung von Konflikten unterstützt werden und
  • Eltern in den Bildungsprozess miteinbezogen werden.

Doch die Elementarpädagogik in Österreich braucht dringend Ihre Aufmerksamkeit, um diese Fakten zu erfüllen. Es braucht sehr rasch:

  • Einheitliche Richtlinien für die erste Bildungseinrichtung Kindergarten für alle Bundesländer,
  • eine hochwertige Ausbildung von Elementarpädagog*innen, die gerne in einen attraktiven und anerkannten Beruf einsteigen,
  • bessere Rahmenbedingungen für die elementarpädagogische Arbeit, allem voran weniger Kinder pro Pädagog*in (kleinere Gruppengrößen),
  • Ressourcen für eine gute Umsetzung der Bildungspartnerschaft und für Elternbildung.

Die Träger*inneninitiative Elementare Bildung Wien besteht aus den größten privaten gemeinnützigen Kindergartenträger*innen Wiens: Diakonie Bildung, Kinderfreunde Wien, KIWI – Kinder in Wien und St. Nikolausstiftung. Zusammen bilden und betreuen wir rund 28.000 Kinder und decken zusammen 30 Prozent des elementaren Bildungs- und Betreuungsbedarfs in den Wiener Kindergärten und Horten ab.

Wir wissen, dass vor allem die Gruppengröße und der entsprechende Fachkraft-Kind-Schlüssel entscheidend für die Qualität der ersten Bildungseinrichtung sind. Nur so können qualitativ hochwertige Interaktionen gestaltet und Kinder beim Aufbau sicherer Beziehungen sowie in ihrer Selbstbestimmung, Kreativität und individuellen Kompetenzentwicklung unterstützt werden, wie etwa die mehrsprachliche Kompetenz mit Deutsch als Bildungssprache.

Nach wie vor gibt es keine bundesweit einheitliche Regelung für den Fachkraft-Kind-Schlüssel, die immer wieder dringend von uns und anderen Expert*innen gefordert wird!

Vielmehr sind die Pädagog*innen durch ihre besondere Rolle, die sie während der Pandemie spielen (die Arbeit mit Kleinkindern ist mit Maske und Abstand unmöglich, nach wie vor keine flächendeckenden Lutschertests, Distance-Betreuung ist nicht möglich) am Rande ihrer Kräfte. Sie waren während jedes Lockdowns im Einsatz, der akute Pädaog*innen-Mangel wurde durch Krankenstände und Burnouts noch verschärft.

Österreich muss dringend in vorschulische Bildung investieren!

All das zeigen wir seit Jahren auf. Es ist längst an der Zeit, österreichweit einheitliche und verbesserte Rahmenbedingungen zu schaffen und gezielt in den Bereich der Elementarbildung zu investieren. Wir ersuchen Sie daher, sich intensiv und umgehend mit dem Anliegen der elementaren und außerschulischen Bildungseinrichtungen auseinanderzusetzen.

Wir stellen dazu gerne unsere Expertise zur Verfügung und würden uns sehr freuen,  weitere Aspekte der Situation der Elementarbildung in Österreich in einem persönlichen Gespräch mit Ihnen zu erörtern.

Mit freundlichen Grüßen,

die Geschäftsführer*innen der Trägerorganisationen Kinderfreunde Wien, KIWI – Kinder in Wien, Diakonie und St. Nikolausstiftung

[1] Das „Primary and Secondary Education project (EPPSE)” des University College London begleitete 2800 Kinder aus 141 verschiedenen öffentlichen und privaten elementaren Bildungseinrichtungen, sowie weitere 380 Kinder ohne oder mit kaum Vorschulbildung über 17 Jahre hinweg. Im Zentrum stand die Frage nach den Wirkungen, die elementare Bildung hat. https://www.ucl.ac.uk/ioe/sites/ioe/files/RB_Final_Report_3-7.pdf abgerufen am 12.11.2020